Was ist Gemeinwohl?

Wie wichtig ist das Gemeinwohl für eine lebbare Welt? Lesen Sie hier den ersten Teil zum Thema: 
 

Was ist Gemeinwohl?

In den parlamentarischen Demokratien wird prozedural entschieden, was Gemeinwohl ist. Es ist der Gesetzgeber, der entscheidet, also letztlich die Mehrheit in einer Demokratie, aber natürlich gibt es auch einen gesellschaftlichen Diskurs der definiert, was Gemeinwohl ist… Die Verfassung als normative Grundstruktur gibt die Basis. 

Dass es für Gemeinwohlbelange unterschiedliche Begriffe gibt, die Einzelaspekte herausheben, ist klar: Gemeinsinn, sozialer Frieden, kulturelle Identität usw. Wichtig ist, dass es jeweils nur Annäherungen und Provisorien sein können, weil man eben regulative Ideen nicht vollständig fassen kann. Das Gemeinwohl wird immer wieder neu und abhängig von den weltanschaulichen und politischen Einstellungen inhaltlich anders aufgeladen und vereinnahmt. 

Gemeinwohl ist keine objektive Tatsache, sondern eine soziale Konstruktion.

Timo Meynhardt: Miteinander im Gespräch sein bedeutet auch, gemeinsame Erfahrungen zu machen. Und dies ist der Kern des Ganzen: Gemeinwohl kann man nur erleben, nicht definieren.

Viele Menschen verstehen Gemeinwohl als Gegenpol zum Individualwohl, im Sinne von Gemeinsinn versus Eigensinn, Altruismus versus Egoismus… Ich halte diesen Ansatz für gefährlich. Hier steht das Individualwohl dem Gemeinwohl gleichsam im Weg, es muss beiseitegeräumt, kontrolliert, in die richtigen Bahnen gelenkt werden, damit endlich dem Gemeinwohl zum Durchbruch verholfen wird. Es erscheint mir deutlich sinnvoller, das Gemeinwohl als aus dem Individualwohl abgeleitet zu verstehen. 

Gibt es ein globales Gemeinwohl?

Udo Di Fabio: Der weltgesellschaftliche Horizont macht die Bestimmung von Gemeinwohl noch viel schwieriger. 

[Das Gemeinwohl] gerät desto diffuser, je größer die sozialen und politischen Einheiten werden, auf die es sich bezieht. Globales Gemeinwohl wäre ein rational nicht handhabbares Konzept. Was in den kleinen oder isoliert-autonomen Einheiten einer Familie oder einer Landgemeinde noch anschaulich und prägnant sein kann, wird auf der Ebene der Weltgesellschaft zu einem willkürlichen Argument. 

Überschaubarkeit ermöglicht das Gestalten und Handeln, in Aktion und Reaktion, in persönlicher Eingebundenheit und Kontrolle, entfalten sich Freiheit, Gleichheit und Verantwortung. Für Aristoteles war Gemeinwohl das Wohl der überschaubaren Polis, Rousseaus Gesellschaftsvertrag konstituierte das Gemeinwohl nur für die Vertragsschließenden. Wer heute darüber hinausgeht, bewegt sich in eine stimmige Welt der Abstraktion, die aber regelmäßig Verantwortungszusammenhänge kaum mehr konstruieren kann. 

Die Sorge um das nachhaltige globale Gemeinwohl hat nur punktuelle Verwirklichungschancen, wenn sie unmittelbar auf ein Zusammenarbeiten auf globaler Ebene setzt. 

Wenn die Schwierigkeit, gemeinwohlbezogene Fragen global zu verhandeln und zu entscheiden, kaum zu meistern ist, … was ist dann zu tun? Dann hilft weltbürgerliche Rhetorik wenig, und die Probleme müssen dort und Stück für Stück gelöst werden, wo sie gelöst werden können. 

Jeder Einzelne ist Mitglied überlappender Gemeinschaften und damit parallelen oder konkurrierenden Gemeinwohlansprüchen ausgesetzt … So wenig es  überzeugen kann, das »globale Gemeinwohl« an allen Fronten der Politik realisieren zu wollen, so wenig kann eine pauschale Renationalisierung der Interessen die realen Probleme der Welt lösen. Richtig erscheint es, je nach Sachthema unterschiedliche politische Bezugssysteme zu adressieren: Klimawandel und Migration sprechen globale Gemeinschaftsgüter an, während soziale Sicherungs- oder Bildungssysteme typischerweise im nationalen Rahmen verfasst sind. Verteidigungs- und Sicherheitspolitik verlangen ebenso wie Handels- und Wirtschaftspolitik nach supranationalen Strukturen. Der Bürger wird es aushalten müssen, je nach Sachfrage als Deutscher, als Europäer oder als Weltbürger zu denken und zu agieren – sonst denkt er entweder zu klein oder zu groß. 

Corinne M. Flick: Gegenüber den Mitgliedern dieser Gemeinschaften, denen wir uns zugehörig fühlen, haben wir eine erhöhte Verantwortlichkeit. Wir haben aber auch moralische Verpflichtungen gegenüber Menschen außerhalb dieser Gemeinschaften… In letzter Konsequenz ist bonum commune nicht von der universalen Idee des Guten zu trennen. Damit ist der Begriff »Gemeinwohl« letztendlich auf die Menschheit insgesamt ausgerichtet. 

Der Nationalstaat als Akteur globaler Gemeinwohlanliegen

Udo Di Fabio: Die Entwicklung und Verbreitung freiheitlicher demokratischer Ordnungen ist die Voraussetzung globaler und nachhaltiger Gemeinwohlverwirklichung. Ohne funktionierende Rechtsstaaten gibt es keine Aussicht auf Achtung der Menschenrechte und die Verwirklichung globaler Menschheitsziele. 

Die Fragen des globalen Gemeinwohls sind zuerst praktische Fragen, die im Innern von Staaten selbst, im Institutionensystem der Vereinten Nationen, der supranationalen und internationalen Organisationen auf dem Verhandlungswege befördert werden müssen.

Wolfgang Schön: Sind Staaten in der Lage, globale Gemeinwohlziele in ihre Handlungsperspektive aufzunehmen? Diese Frage entscheidet sich an dem Willen und Selbstverständnis der Bürger und Bürgerinnen, die als »Staatsvolk« souverän durch Wahlen und Abstimmungen die großen Linien der Politik ihres Landes bestimmen. 

[Wenn] Milliarden Weltbürger, sich nicht einem engstirnigen Nationalismus verpflichtet sehen, aber auch nicht als wurzellose citizens of nowhere verstehen, sondern als freie Bürger einer Weltgemeinschaft, die in Sorge füreinander verbunden sind – Wenn dieses Selbstverständnis entsteht, dann bedarf es keiner Weltregierung, sondern dann kann freiwillige Kooperation zwischen souveränen Staaten, dynamisiert durch einen ideenreichen Systemwettbewerb, Antworten auf globale Fragen anbieten. 

Clemens Fuest: Die Sehnsucht nach einer Weltregierung beruht auf der Vorstellung, dass diese Weltregierung weiser wäre als der Durchschnitt der existierenden nationalen Regierungen. Es ist allerdings unklar, warum das so sein könnte. Angesichts der notwendigerweise sehr großen Entfernung dieser Regierung von den Bürgern muss man eher vom Gegenteil ausgehen… Wir sollten dankbar sein, dass es bislang nicht zu einer solchen Weltregierung gekommen ist, und uns darauf konzentrieren, globale Probleme durch globale Zusammenarbeit zu lösen, auch wenn das mühsam ist. 

Vorsicht vor der Politisierung des Gemeinwohls

Udo Di Fabio: An der Diskussion über das Gemeinwohl fällt auf, dass fast alle Beteiligten glauben, es stünde fest, was das Gemeinwohl sei und wie man es bewahren oder fördern könne. In Wirklichkeit ist hier fast alles kontingent… Daher sind Wissenschaftler und kritische Staatsbürger misstrauisch, wenn Politiker oder Aktivisten vom Gemeinwohl sprechen. 

Wolfgang Schön: Dass in immer mehr Ländern Einzelpersonen für sich in Anspruch nehmen, das Gemeinwohl »oberhalb« der Parteien zu verkörpern, muss jenseits aller Sympathien und Antipathien für diese Köpfe diejenigen bedenklich stimmen, die Politik als Abfolge rationaler Sachentscheidungen verstehen möchten. Es war noch immer ein Erfolgsrezept von Diktatoren, sich zu Beginn ihrer Karrieren als einzig legitime Träger und Exekutoren des Volkswillens auszugeben. 

Stefan Korioth: Wir sprechen zunächst immer als Individuen von Gemeinwohl. Wer sich, im Namen welcher Idee auch immer, auf abstrakte überindividuelle Werte als Gemeinwohl beruft, unterliegt besonderen Rechtfertigungsanforderungen. So ist die Äußerung von Carl Schmitt zu verstehen, wonach, wer bonum commune sage, betrügen wolle. 

Das Gemeinwohl als Orientierung

Timo Meynhardt: Dem Gemeinwohlgedanken kommt die Funktion eines Polarsterns zu, der zwar niemals erreichbar ist, aber stets eine Richtung weisen kann. Diese funktionale Bedeutung ist dann besonders relevant, wenn sich alles rundherum ändert, nichts beständig erscheint und vieles in Frage gestellt wird. Genau an dieser Stelle ist ein tieferer Grund zu suchen, warum in Zeiten großer Verunsicherung, aber auch enormer Chancen die Gemeinwohlorientierung eine motivierende und ordnende Kraft entfaltet. Man könnte auch sagen: Wenn Komplexität die Herausforderung ist, dann ist Gemeinwohl die Antwort. 

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